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2011/04/14

Chruschtschow-Geschichten und: Gerda wird 60

Meine Cousinen Gerda und Trudi und die beiden Cousins Hermann und Willi waren für meine Geschwister und mich die liebsten Spielgefährten, viele Jahre lang, und ich liebte sie wie Geschwister: Wir verbrachten fast die ganze Kindheit im gemeinsamen Spiel. Im Alter waren wir fast gleich, und unsre Elternhäuser waren benachbart – beide gehörten ursprünglich zum Besitz des Achmüller Großvaters – wir nannten ihn damals – er war längst in Pension - nur Baberl.

Oft spielten die Kinder beider Familien gemeinsam in unsrem Haus, noch häufiger aber im Haus Onkel Sepps und Tante Trudes. Zu Tante Trudes Anwesen gehörten außer dem großen Haus auch die Mühle und das Sägewerk. Ihre drei Brüder waren alle im Krieg gefallen, und so musste sie die Müllerei lernen und den elterlichen Betrieb übernehmen.
So eine Mühlen- und Sägewerksbetrieb ist nun eine weitläufige Anlage mit unzähligen Nebengebäuden, Schuppen, Lagerplätzen, mit Mühlbach und Turbine und Maschinen, ja sogar ein Schienennetz gehörte dazu mit eigenen kleinen Waggons – auf denen Bretterstapel und vor allem die "Bloche", so nannte man die Baumstämme, transportiert wurden.
kleiner Gleiswagen für Betriebsbahn
Wenn diese Loren aber leer standen, schoben wir sie an, hockten uns flugs darauf und fuhren zwischen den Bretterstapeln und Blochlagerplätzen herum. Was uns häufig die Schelte unseres Onkels eintrug. „Toats scho wieder Blochwagerl  fahrn!“, schimpfte er, „Schauts dass’s aberkemmts. Des is vuil z’gfährlich!“ Womit er so unrecht nicht hatte - auch das Spielen zwischen den hoch aufeinander geschlichteten Balken und Pfosten sowie das Herumturnen auf den aufeinander getürmten Stämmen war nicht ganz unbedenklich.
die so genannten Bloche auf dem Holzplatz
Als wirkliches Tabu akzepektierten wir freilich nur die Säge selbst: Vor dem mit Gewalt auf und ab sausenden Sägegatter, das sich mit mörderischem Tempo und unerbittlicher Konsequenz durch die Stämme fraß, hatten wir einen Heidenrespekt, und den Maschinenraum unter dem Gatter betrat ich überhaupt nur einmal, natürlich in Begleitung meines Onkels -  bei vollem Betrieb. Noch heute gegenwärtig ist mir der heilige Schauder vor der geballten Kraft dieser tosenden Maschinen-Unterwelt voller herumfliegender Sägespäne.
Nicht nur das Sägewerksgelände, auch die Mühle war für uns Kinder das reinste Spielparadies. Ich bedaure immer die Kinder in Wien, die, eingepfercht in eine zubetonierte, durchreglementierte enge Erwachsenenwelt, so etwas nie kennenlernen durften.
Sie kommen mir eingesperrt vor und arm, wenngleich ich zugebe, dass es auch andere wichtige Faktoren gibt, die für eine gelungene Kinderzeit eine Rolle spielen, und die natürlich auch auf dem Land nicht immer gegeben sind.
Sägegatter
 Trotzdem denke ich: Es sollte jedes Kind diese Freiheit erleben dürfen, die den meisten Kindern auf dem Land offen steht, oder wenigstens uns damals: Die Natur, Feld, Wald und Wiese, und die bäuerliche oder handwerkliche Arbeitswelt der Erwachsenen sind unerschöpfliche Quellen von Entdeckerfreude. Die Anleitung durch noch so wohlmeinende pädagogische Förderung in ausgeklügelten pädagogischen „Lernumgebungen“ kann bestenfalls ein erbärmlicher Ersatz sein für das, was ein Kind sich aus eigenem Antrieb und eigener Neugier aneignet, wenn es selbständig unterwegs sein darf.

Mühlenboden
Auch die Mühle bot, wie gesagt, mit ihren weitläufigen Baulichkeiten einen geradezu idealen Raum für Erkundungen und für Versteckspiele und allerlei Schabernack. Eine unsrer Lieblingsbeschäftigungen war, uns durch eine Luke im dritten Stock auf die Getreiderinne zu setzen, und darin hui in den zweiten Stock hinunter zu rutschen. Womöglich mitten im übermütigen Fangenspiel. Wehe, der Onkel Müller stand dann gerade unten und sah einen. Man konnte ja oft nicht hören, was er schimpfte, denn die vielen Räder, und die Riemen und Lager und Maschinen machten einen Höllenlärm, knatterten und rumpelten so laut, dass man nur sah: der Onkel schreit, und die Falte über der Nase bedeutete gewiss nicht: Willkommen in der Mühle. Nein, wir wussten es auswendig, was er sagte: „Wie oft hab i euch schon gsagt, in der Muihl habts ös Kinder nix verloarn. Marsch marsch, aussi!“
Es wirkte freilich nicht lange, das Verbot. Zu groß war der Drang, die beinahe unzählig scheinenden Kammern und Mühlstuben und Lager zu betreten, sich in Mehlkisten zu verstecken, sich in Getreidehaufen einzubuddeln wie Max und Moritz, oder die vielen Maschinen zu bewundern: Was gab es da nicht alles für rätselhafte ratternde Ungetüme,  mit unermüdlich sich drehenden Rädern, mit endlos laufenden Schnecken und Förderbändern, mit hunderten knatternden Riemen und quietschenden Lagern, mit Zahnrädern, Riegeln und Schnappern, mit Exzentern und Pleuelstangen, Kardangelenken und Mitnehmern. Da gab es staubende Plansichter, die nicht müde wurden, sich zu schütteln, geheimnisvolle  Messzeiger, die hinter mehlbestaubten Glasdeckeln hin und her zuckten zwischen irgendwelchen fantastischen Skalenstrichen. Es gab einen abenteuerlichen Lastenaufzug mit Schleifkupplung, mit dem man auch selbst fahren konnte, aber natürlich nicht durfte. Es gab Gebläse oder Aspirateure, Walzenstühle, eine Turbine mit Generator und noch vieles mehr, das mir entfallen ist, oder von dem ich nie gewusst habe, wie es heißt.
Hauptantriebswelle mit Riementrieben
Eines unserer Lieblingsspiele in der Mühle hieß, wenn ich mich recht ensinne "Müllnergeist", und es bestand einfach nur darin, dass einer sich versteckte und die anderen, die nach ihm suchten, in einem unerwarteten Moment, so gut es ging, erschrecken durfte. Wenn der "Geist" dann, mitten in dem Mühlenlärm, auf den teils schlecht beleuchteten Mühlenböden, aus irgendeiner Ecke hervorsprang und schrie „Müllnergeist, Müllnergeist!“, dann rief das bei uns tatsächlich einen solchen Schrecken hervor, einen halb wohligen Schrecken freilich, dass es mir noch heute ein wenig warm und kalt über den Rücken läuft, wenn ich daran zurückdenke.
Die kindliche Vorliebe für Gespenster und Geister habe ich schon damals für meine ersten literarischen Höhenflüge ausgeschlachtet: ich schmeichle mir, dass sich meine Cousins und Cousinen noch heute an die von mir aus dem Stegreif erfundenen so genannten Chruschtschow-Geschichten erinnern, die ich ihnen bei unsren Seancen in mondheller Kammer erzählt habe. Keiner von uns weiß heute noch Einzelheiten, schaurig müssen sie jedenfalls gewesen sein, diese Chruschtschow-Geschichten, und „der Chruschtschow“ war das Schaurigste daran, eine wahre Ausgeburt der Hölle, ein Teufel und Zauberer.
              Generalsekretär der KPDSU
            Nikita Chruschtschow (1958)
Mit dem damaligen Parteivorsitzenden der KPdSU Nikita Chruschtschow dürfte meine Figur allerdings nicht viel Geschichtliches gemeinsam gehabt haben – ich hatte in meiner kindlichen Phantasie einfach nur aufgeschnappt, dass mein Vater, der im Krieg an der russischen Front gewesen war, die Kommunisten gar nicht mochte, und so bastelte aus dem Wenigen, das ich gehört hatte, ein Monster, dem ich alle Greuel und negativen Züge andichtete, die mir gerade einfielen. Auf meine Zuhörer dürfte ich dennoch die Wirkung nicht ganz verfehlt haben, denn bei den nächsten Besuchen verlangten Gerda, Trudi, Willi und Hermann bereits neue Chruschtschow-Folgen. Das schmeichelte mir, brachte aber mein keimendes Autorentalent rasch an seine Grenzen, denn ich hatte alle zugkräftigen Motive bereits bei den ersten Folgen verbraucht, und zwar in deren kaum noch steigerbarer Superlativform. Und so war ich schließlich ganz froh, als die Sache irgendwann „Quoten verlor“, und mein Chruschtschow schließlich vergessen wurde und in den wohlverdienten Ruhestand gehen durfte. Dadurch blieb mir die Qual amerikanischer Serienautoren erspart, wenn sie die 1376. Folge einer Soap-Opera schreiben müssen.
Meine mir etwa gleichaltrige Cousine Gerda feiert dieser Tage den Sechziger (fast am selben Tag übrigens wie Chruschtschow, der an einem 17. April geboren ist). Fast sechzig Jahre sind also seither vergangen. Wie im Flug, scheint mir. Denn im Herzen sind wir nicht älter geworden, sind wir immer noch der Bub und das Dirndl von damals.
Ich gratuliere herzlich! Diese Geschichte und das Feuerwerk unten sei auch mein Geburtstagsgeschenk!

Unten: Persönliches Gratulationsfeuerwerk für Gerda rund um die Burghauser Burg -
ihr Name erscheint immer wieder mal sogar als feurige Buchstaben am Himmel - dummerweise immer noch mit ihrem Mädchennamen - alles was später war, hatte ich scheinbar tatsächlich vergessen...


Hier, in Ach an der Salzach, Ortsteil Wanghausen, gegenüber der Burg und Altstadt Burghausen, stand die Achmühle, das Stammhaus unserer Mütter, Geburtshaus Gerdas und Schauplatz der Cruschtschow-Geschichten. Heute sind nur mehr einzelne Reste von ihr erhalten, wie z.B. die Turbine. Mühle und Säge haben längst einer Salzachbrücke und einem Straßenbau Platz gemacht. Tempi passati ...


Buchtip für Mühlen- und Literaturfreunde: Alois Brandstetter "Die Mühle", Roman

2 Kommentare:

  1. Hallo, vielen Dank für Deinen Besuch!
    Werde mich noch öfter blicken lassen; schön, daß Bücher wie "Die Mühle" nicht verloren gehen!

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  2. Susanne Karl, geb. Zadny28. April 2011 um 02:22

    Hallo Wolfgang, ich bin auch eine Cousine von Gerda (Tochter von O. Sepps Bruder), und hab ihr auch zum Geburtstag meine Erinnerungen an Ach geschíckt. Ich verbinde mit den Ferien in Ach meine schönsten Kindheitserinnerungen - die Mühle, der Mühlbach, die Leitn, der Springbrunnen im Garten, der feine Sand in der Salzach, und noch so vieles mehr, was eine aufregende Zeit versprach. Ich habe mit Freude Deine Erinnerungen gelesen. Schade, dass wir uns beim Fest nicht kennenlernten.
    Liebe Grüße, Susi (etwas älter, 66 bald).

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